Kurzbericht der Tagung „Angriffsverbot vs. Schutzverantwortung - Europa, UNO und die Zu-kunft humanitärer Interventionen“, 4.-6. Juni 2012
Nach Jahren konzeptioneller Debatten und nach akuten Auseinandersetzungen über das Für und Wider von Interventionen in Libyen und Syrien steht nun die Implementierung der Responsibility to Protect (R2P, Schutzverantwortung) an. Diese neue Völkerrechtsnorm verlangt von Staaten den Schutz ihrer eignen Bevölkerungen vor massiven Menschenrechtsverletzungen. Außerdem verpflichtet sie die internationale Gemeinschaft zum Schutz der Bürger vor ihren eignen Regierungen einzugreifen, wenn diese ihrer Schutzverantwortung nicht nachkommten.
Dabei ist die Autorisierung von Interventionen, die Responsibility to React, lediglich das äußerste Mittel. Entsprechend schließt R2P bewusst konfliktverhütende Ansätze mit ein, nämlich die Responsibilty to Assist und die Responsibility to Rebuild. Wie aber soll der präventive Kerngedanke der Schutzverantwortung umgesetzt werden? Im internationalen Kontext ist zu klären, ob andere Organisationen als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen R2P-Maßnahmen autorisieren dürfen. Welche Rolle sollen dabei regionale Staatenbünde spielen? Bei der nationalen Umsetzung von R2P stellt sich die Frage, wie präventive Krisenpolitik effektiv um-gesetzt werden kann. Wie kann Deutschland präventiv eingreifen, ohne später auch militärisch intervenieren zu müssen? Zudem besteht die Herausforderung, Kriterien für R2P-Mandate zu entwickeln. Wie und unter welchen Umständen soll Deutschland intervenieren? Wie kann die Schutzverantwortung vor der Instrumentalisierung für unerfüllbare Missionen und der beliebigen Ausweitung militärischer Interventionen geschützt werden?
Mit diesen Fragen setzte sich die internationale Tagung „Angriffsverbot vs. Schutzverantwortung“ vom 4. bis 6. Juni 2012 an der Evangelischen Akademie Loccum auseinander. Dieser Kurzbericht fasst die Diskussionen in vier Bereichen zusammen. Zunächst wird die Europäische Verantwortung und damit auch die Rolle Deutschlands bei der Umsetzung der Schutzverantwortung umrissen. Darauf folgt eine Einschätzung der Rolle der Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Für die deutsche Implementierung besonders relevant sind die letzten beiden Teile, die sich mit der Stärkung der Prävention und den Kriterien für R2P-Maßnahmen auseinandersetzen.
Europäische Verantwortung
Die Schutzverantwortung verpflichtet die internationale Staatengemeinschaft zum Eingriff in die Souveränität eines Staates, wenn dieser seiner eigenen Verpflichtung zum Schutz seiner Bürger nicht nachkommt. Daraus ließen sich weitaus mehr Interventionsverpflichtungen ableiten, als Europa schultern kann. Daraus folgt, dass Europa insgesamt, aber auch Deutschland individuell den eigenen geographischen Zuständigkeitsbereich beschreiben und zudem definieren muss, welche Aufgaben sie mit welchen Instrumenten im Rahmen von R2P Mandaten übernehmen. Diese Forde-rung wurde von unterschiedlichen Teilnehmern immer wieder hervorgehoben. Yves Boyer (Founda-tion pour la recherche strategique) gab zu bedenken, dass es klare und gleiche Verantwortlichkeiten innerhalb Europas geben müsse. Das bedeute, dass sich auch Deutschland am gesamten Maßnahmenspektrum (inkl. robuster militärischer Interventionen) beteiligen müsse. Einigkeit herrschte darüber, dass eine gute Kenntnis der Krisenregion für die erfolgreiche Konfliktbearbeitung Voraus-setzung sein muss. Das legt nah, dass sich die europäische Verantwortung auf die unmittelbare Pe-ripherie der EU konzentrieren sollte. Mit Kaukasus, Kaspischen Meer, Nahen Osten und Nordafrika besteht hier reichlich Potenzial zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen.
Roderich Kiesewetter (MdB/CDU) unterstrich, dass man bei R2P auf die EU setzen müsse, nicht auf NATO oder OSZE. Die EU verfüge über einen ansehnlichen Werkzeugkasten und große Erfahrung in der Konfliktbearbeitung. Nun müsse diese europäische Expertise für Ziviles und Prävention ausge-baut und für R2P genutzt werden. Darüber hinaus müsse Europa andere Regionalorganisationen einbeziehen und sie unterstützen, um auch jenseits der eigenen Sphäre einwirken zu können, so die Arbeitsgruppe 1.
Dabei ist das Eintreten für die Belange der Bürger anderer Staaten für Europa alles andere als neu. Fabian Klose (Universität München) zeigte anhand der Evolution humanitärer Interventionen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dass sich das humanitäre Völkerrecht im Wechselspiel staatlicher Inte-ressen und zivilgesellschaftlicher Ansprüche entwickelt. So seien mit der Ächtung des Sklavenhan-dels und mir dem Eingreifen ins Osmanische Reich zur Pazifizierung Griechenlands aus humanitä-ren Beweggründen Präzendenzfälle für die Doktrin humanitärer Interventionen geschaffen worden, die das „General Interest of Humanity“ (Wheaton) und nicht staatliches Interesse in den Mittelpunkt stellt.
Eben diese neue Doktrin des an menschlicher Sicherheit orientierten Handelns bietet einen guten Anknüpfungspunkt für das kirchlich geprägte Konzept des gerechten Friedens. Werner Weinholt (Berater des evangelischen Militärbischofs) bezeichnete die Schutzverantwortung dann auch eher als Segen denn als Fluch auf dem Weg zu eben diesem gerechten Frieden. Für Michael Haspel (Ev. Akademie Neudietendorf) bietet R2P hier ein Instrumentarium für proaktiven Menschrechtsschutz mit der gesamten Breite des UN-Instrumentariums, einschließlich Eingriffen von außen nach Kapi-tel 7 der UN-Charta. Ausgehend von einem Human Security Ansatz böte sich nun die Gelegenheit zur Verknüpfung von Menschenrechten, Sicherheit und Entwicklungszusammenarbeit. Unter Anknüp-fung an die ICISS-Kriterien ließe sich so die Doktrin des Gerechten Kriegs in kollektive Sicherheit transponieren.
Rolle des VN-Sicherheitsrates
Lawrence Moss (Human Rights Watch) stelle fest, dass R2P mit ihrer Entwicklungsgeschichte seit 2001 ein sehr junge Norm sein, die aber in Ägypten und Tunesien schon ihren Einfluss bewiesen habe. So hätte die Furcht vor internationalen Interventionen die Repressionen der Etablierten stark einge-schränkt. Damit würde R2P wie erhofft wirken. Unterstützer der Norm hätten immer gehofft, nie zu dem Punkt zu gelangen, an dem eine Intervention erforderlich sei, es aber an der Unterstützung des Sicherheitsrates mangele. Aber gerade an diesem Punkt knüpft die Diskussion mit Blick auf Syrien an: wie soll die internationale Gemeinschaft in Anbetracht chinesischer und russischer Vetos reagie-ren? Für Boyer ist klar, dass es klare und starke Zustimmung nicht nur des Weltsicherheitsrates, son-dern auch betroffener Regionalorganisationen Voraussetzung für R2P-Mandate sein müssten, da sich nur so die Stabilität der Weltordnung sicherstellen ließe. Moss ergänzte, dass gewaltfreie Maß-nahmen auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrates ergriffen werden könnte. Diese könnten durch Menschenrechtsgremien der UN, aber auch durch Regionalorganisationen legitimiert werden. Aller-dings müsse hier auch bedacht werden, dass Maßnahmen wie Embargos nur dann ihre Wirkung entfalten könnten, wenn die Weltgemeinschaft hinter ihnen stände. Somit wäre also die ausdrück-lich Unterstützung des Sicherheitsrates auch für nicht-militärische Maßnahmen eine wichtige Er-folgsbedingung. Schließlich stände aber auch noch der Mechanismus der „Uniting for Peace“ Reso-lution 377 zu Verfügung, in der die Generalversammlung den Sicherheitsrat mit 2/3 Mehrheit als handlungsunfähig erklärte und anstatt seiner selbst autorisiert habe.
Die Autorisierung des Sicherheitsrates sei auch gerade deshalb wichtig, da es in Bürgerkriegssituati-onen keine unparteiischen Eingriffe geben könne. Das Militär müsse eine Seite ergreifen; sonst sei es zum Scheitern verurteilt, so Stefan Sohm (BMVg). Daraus folgt, dass militärische R2P-Interventionen gerade zwangsläufig Regime Change beinhalten. Gleichzeitig müsse man aber dem damit verbun-den Hang widerstehen, R2P zur Begründung von Regime Change Intervention zu bemühen, warnte Karl-Ulrich Voss (BMBF).
Prävention
Hermann Nicolai (Auswärtiges Amt) führte aus, dass Deutschland bei der Konzeptionalisierung der Norm als Mitglied der Freundesgruppe für R2P intensiv mitgewirkt und sich insbesondere für eine präventive Interpretation stark gemacht habe. Die Bundesregierung wolle ebenso wie die Bundes-tagsanträge von SPD und Grünen eine präventive R2P. Dennoch sie R2P kein rein präventives Kon-zept; auch die 3. Säule (react) gehöre dazu. Die Arbeitsgruppe 3 gab zu bedenken, ob das Militär im-mer mitgedacht werden müsse? Es könne schließlich die Grundlage für Vertrauensmaßnahmen untergraben. Dennoch müsse es Teil der Toolbox für die Konfliktbearbeitung sein.
Werner Weinholt, Christian Schwarz-Schilling (CSSP Berlin Center for Integrative Mediation) und Edelgard Bulmahn (SPD Bundestagsfraktion) waren sich mit den Tagungsteilnehmern einig, dass Prävention immer auch einen bottom-up Ansatz der Friedensbildung in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft erfordere. Schließlich könne das Militär lediglich Waffenstillstände erreichen. Alles Weitere ginge nur zivil, so Bulmahn. Dabei sei zivile Krisenprävention noch schwerer einzusetzen als militärische Mittel. Sie beklagte, dass die Wahrnehmung von R2P durch Interventionen geprägt sei und dass es der Prävention an der Strategie mangele. Daher seien für die Prävention ein gutes In-strumentarium und Analysen seiner Wirkungsweise erforderlich. Deutschland brauche eine kohä-rente Strategie für Präventionspolitik. Zwar müssten wir auch Kurzzeitreaktionen akzeptieren, so die Arbeitsgruppe 1, aber Außenpolitik müsse vor dem Krisenausbruch einsetzen.
Die bestehenden Instrumente wurden in der Tagungsdiskussion unterschiedlich bewertet. So funk-tioniere die Frühwarnung gut und Ressourcen würden nach „einer gelben Ampel“ auch gut gesteuert. Aber das sei zu wenig. Wir verhinderten Konflikte mit zivilen Gründen nur sehr begrenzt. Dafür wür-den qualitativ und quantitativ die großen Instrumenten fehlen. Zudem müsse man sich – auch im Sinne europäischer Arbeitsteilung – fragen, was Deutschland können müsse? Schweizer Diplomaten hätten beispielsweise ein Mediationstraining. Sollten das deutsche Diplomaten auch können?
Im Bereich der Polizeiarbeit könne Deutschland viel leisten und alles anbieten, was der deutsche Polizeibaukasten zu bieten habe. Auf dem Balkan wären einmal mehrere Hundert Beamte einge-setzt gewesen. Derzeit sei viel Polizeikapazität in Afghanistan gebunden, die aber demnächst ver-fügbar würde. Damit ließen sich Polizeikontingente von Regionalorganisationen ausbilden und so mit einem relativ geringen, aber hoch qualifizierten deutschen Personaleinsatz viel Wirkung errei-chen. So habe man im Senegal eine geschlossene Einheit ausgebildet, die dann in Darfur und Mali eingesetzt wurde. Von der Ausbildung und Ausrüstung hätte dann im Nachgang auch noch Senegal als Heimatland der Polizisten profitiert. Deutschland könnte so die Ausbildung einer afrikanischen Stand-By Force unterstützen. Letztlich sei es eine politische Entscheidung, ob die Polizei Schwer-punkt des deutschen Instrumentenkastens sein sollte. Ausbaupotenzial bestände auf jeden Fall und mit Ausbildern ließe sich viel erreichen. Zudem können man Polizei ohne Parlamentsbeschluss auf Basis einer Kabinettsentscheidung entsenden.
Kriterien
Hermann Nicolai beurteilte den brasilianischen Vorschlag (Responsibility while Protecting), der har-te Kriterien als Planken gegen Interventionsmissbrauch etablieren soll, als gefährlich, weil ein sol-ches mechanisches Verfahren möglicherweise zu langsam sei. Nichtsdestotrotz wolle man aber über die Vorschläge sprechen. Moss verwies darauf, dass es bereits den Kriterienkatalog der ICISS-Kommission gäbe (right intention: reduce human suffering: last resort; proportional means; reasonable prospects), der eine sehr geeignete Messlatte für R2P-Mandate darstelle. Dieser müsse angewendet werden, auch wenn der Sicherheitsrat ihn nicht direkt aus dem Kommissionsreport übernommen habe. Diese precautionary principles seien auch aus kirchlicher Sicht elementar, da sie die Verhältnismäßigkeit von Gewaltanwendung absicherten und damit die Schutzverantwortung mit einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt verbänden, so Weinholt.
Haspel meinte, dass die Kriterien wichtig seien, um für Transparenz und Strukturierung in den Dis-kursen um R2P-Situationen zu schaffen. In jedem Fall sei eine Entscheidungsgrundlage zur Beurtei-lung von Menschenrechtsverletzungen erforderlich. Letztlich könnten Kriterien aber immer nur Ent-scheidungen strukturieren und nicht als Ersatz für diese dienen.