„Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas zu Gott und stimmten Lobgesänge an, und die anderen Gefangenen hörten zu. Da gab es auf einmal ein starkes Erdbeben, und die Grundmauern des Gefängnisses wankten; unversehens öffneten sich alle Türen, und allen Gefangenen fielen die Fesseln ab.“ Das ist doch eine Ansage: anständig beten, ein paar Lobgesänge und schon kommt man aus der ausweglosesten Situation raus.
Paulus und Silas hatten ein echtes Problem: wegen vermeintlicher Unruhestiftung waren sie ohne anständigen Prozess ins Gefängnis gekommen.
Kurz vor unserer heutigen Stelle lesen wir: „Nachdem man ihnen viele Schläge gegeben hatte, warf man sie ins Gefängnis und trug dem Gefängniswärter auf, sie in sicherem Gewahrsam zu halten. Auf diesen Befehl hin führte der sie in den innersten Teil des Gefängnisses und legte ihnen die Füße in den Block.“
Unschuldig im Hochsicherheitstrakt und doch beten und singen sie. Und Gott erwidert ihr Gebet umgehend direkt mit einem Erdbeben, das alle Türen und Fesseln öffnet.
Dabei ist das Erdbeben mehr als das Freiruckeln von verschlossenen Türen und Fesseln. Es steht für das direkte Eingreifen Gottes.
Klar, die ungeheure Zerstörungsmacht eines Erdbebens musste göttlichen Ursprungs sein. Und die scheinbare Zufälligkeit ihres Auftretens auch. Wenn diese Kraft dann auch noch wohl dosiert an der richtigen Stelle zum Guten eingesetzt wird, ist der Gottesbeweis perfekt. In unserem Lehrtext lassen sich dann auch gleich mehrere Menschen missionieren, allen voran der Gefängniswärter.
In der damaligen Vorstellungswelt ein sehr eindrücklicher Beweis: die Zähmung und der gezielte parteiische Einsatz einer Kraft, die rund um das Mittelmeer herum immer wieder für Zerstörung sorgt und dabei unterschiedslos Menschenleben aller Religionen, Ethnien und sozialer Schichten fordert.
Aber das wissen ja sogar Grundschüler heute besser: Erdbeben entstehen meistens dort, wo zwei Kontinentalplatten aufeinander treffen. Mechanische Spannung, nicht göttliche Intervention lässt den Erdboden immer wieder beben. Wir können unterschieden, wo und wie Beben entstehen und wir investieren viel Forschung, um besser vorhersagen zu können, wo und wann genau Beben zu erwarten sind. Noch können wir den Zeitpunkt und das Ausmaß eines Bebens im Voraus noch nicht genau festmachen. Aber das scheint eher eine Frage ausstehenden Forschungsbedarfs denn göttlicher Intervention zu sein.
Kein Platz mehr für Wunder? Kein Raum für das Unerklärliche? Wohl nicht mehr bei den „einfachen“ Naturgewalten. Vielleicht in der komplexeren sozialen Welt?
Für das Verhalten der Finanzmärkte schien es auch Modelle zu geben. Doch eben diese Modelle und die darauf aufbauenden Computer-gesteuerten Spekulationen haben uns an den Rand des finanziellen Ruins geführt. Das Ausprobieren einiger Erklärungsmodelle, wie sich der Euro wieder stabilisieren ließe, hat uns viele Milliarden Euro gekostet. Die Finanzmärkte: ein Bereich, in dem wir zerstörerische Macht und eigene Ohnmacht noch sehr direkt erfahren können.
Vielleicht müsste man die Wundergeschichte heute hierher verlegen: Paulus und Silas gerettet durch die Werthaltung ihrer Papiere inmitten eines Crash, der alle anderen um ihr Vermögen bringt. Aber irgendwie erscheint das auch bemüht. Ja, wir haben unsere Probleme, die Märkte zu beeinflussen, und erst recht, sie gezielt zu steuern, aber eigentlich kennen wir die unterliegenden Mechaniken ja.
Also: kein Raum für Wunder mehr? Kein Raum für das Unerklärliche mehr? Danach müssen wir heute lange suchen: was war vor dem Urknall? Wie kann aus dem Nichts etwas werden? Woraus bestehen die kleinsten Teilchen?Schwer zu erklärendes, das unsere Vorstellungsmöglichkeiten übertrifft, gibt es noch, aber es ist weit weg von unseren Alltagserfahrungen.
Das Beben als göttliche Befreiung hat den Gefängniswärter bekehrt. Warum sollte er sich heute noch bekehren lassen? Wo erfahren wir noch Wunder, die das Göttliche nahelegen? Wo brauchen wir noch Glauben, um das Unerklärliche fassbar zu machen? Wozu überhaupt beten?
Vielleicht liegt genau hier der Schlüssel zu einem anderen Verständnis. Unser heutiges Denken ist instrumentell: wir fragen, wozu wir etwas tun sollten. Hinter fast allem Handeln steht ein Zweck. Zweckfreies Handeln ist uns fern. Paulus und Silas haben ihren Lobgesang angestimmt, obwohl sie im Gefängnis waren. Sie waren unrechtmäßig in Gefangenschaft gekommen und sind widerrechtlich gefoltert worden. Dennoch: sie singen und beten. Das Beben kommt für sie sehr günstig, aber in dem Text steht nichts davon, dass sie Gott um Hilfe angerufen hätten. Vielmehr stimmten sie Lobgesänge an in einer Situation, in der einem nicht nach Lob und Dank zumute ist. Diese Absichtslosigkeit ist der Unterschied und vielleicht auch der Schlüssel zu ihrem Handeln. Glaube ohne Zweck-Mittel Rationalität. Aber ganz konsequent: auch nicht „weil es mit gut tut“.
So kann Glaube Anker und Ruhepunkt sein: nicht hinterfragt, nicht begründet, nicht verteidigt, einfach nur da.
Vielleicht schafft das auch wieder Raum für Wunder. Gute Dinge, die wider Erwarten geschehen, die sich aber nicht herbeizerren lassen.
Amen.