Letztes Wochenende war ich in Sachen Wahlkampf unterwegs. In Hameln hatten wir unseren ersten Stand der Saison. In der Bäckerstraße, Ecke Wendenstraße. Also quasi zwischen Strumpf Pommer, Juwelier Christ, Salamander Schuhe und dem Rattenkrug. Noch hatten wir nicht viele Themenflyer, also habe ich mich auf unser Flugblatt zur Steuerreform konzentriert. Das ist auch ein Thema, das mir wichtig ist.
Es reicht nicht, einfach nur am Stand zu stehen. Man muss auf die Leute zugehen. Das geht natürlich nur mit einem Spruch, der das Interesse der Menschen schürt. Ich bin also auf die Leute zugegangen mit einem Spruch wie: „Wollen Sie weniger Steuern zahlen?“ oder „Weniger Steuern, das wär doch was?“ oder „Zahlen Sie auch zu viele Steuern?“ Erwartet hatte ich, dass das natürlich jeden interessiert und jeder weniger bezahlen will. Der eine oder andere wusste, wie man Wahlkämpfer abwimmelt, und hat genau das Gegenteil gesagt. Woraufhin ich dann meistens sprachlos war und nur noch ein schönes Wochenende gewünscht habe.
Aber ein paar haben auch wirklich überzeugend und anscheinend überzeugt bekundet, dass sie ihre Steuern gern zahlen. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir unsere Steuern zahlen sollen, um unseren Beitrag zum Gemeinwesen beizutragen, aber ich hatte nicht erwartet, dass so viele Leute ihre Steuern gern zahlen.
"Achtet darauf, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Leuten praktiziert, um sich ihnen zur Schau zu stellen! Andernfalls habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wann immer du Barmherzigkeit übst, sollst du es nicht vor dir her ausposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, damit sie von den Leuten geehrt werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn quitt. Du jedoch, wann immer du Barmherzigkeit übst: Nicht soll deine Linke wissen, was deine Rechte tut, damit Barmherzigkeit im Verborgenen geschehe; und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten."
Wann haben Sie das letzte Mal Barmherzigkeit geübt? Wenn Sie eine Antwort haben, sind Sie mir schon einmal voraus. Für mich hat „Barmherzigkeit üben“ keine so klare Bedeutung, dass ich gleich wüsste, was ich dazu sagen könnte. In diesem Teil der Bergpredigt schreibt Matthäus auf, was Jesus zu jüdischer Frömmigkeit gesagt hat. Die Verpflichtung, Spenden zu geben, ist dabei neben Beten und Fasten die wichtigste Frömmigkeitsübung. Unser Predigttext beschäftigt sich mit den Spenden. Überschrieben ist das Ganze „Vom Almosengeben“. Damit haben wir auch gleich eine interessante inhaltliche Diskrepanz.
„Almosen geben“ kommt aus dem Griechischen. In der griechischen Vorstellungswelt gibt man Almosen aus Mitleid mit dem Almosenempfänger. Das Gegenüber bestimmt, ob, was und wie viel ich gebe. Klaus Wengst hat das in unserem Text übersetzt mit „Barmherzigkeit üben.“ Damit sind wir in der jüdischen Vorstellungswelt. Man hat eine Verpflichtung, zu geben, und damit haben die Empfangenden schon fast eine Berechtigung, Gaben zu empfangen. Ich gebe nicht aus Mitleid, sondern aus der Verpflichtung, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein interessanter Gegensatz.
Diesen Unterschied finden wir dann auch in der jüdischen Ausgestaltung von Spenden. Da es nicht um Almosen geht, sollen die Gaben nicht direkt übergeben werden, sondern vielmehr gesammelt werden, um sie anonym weiterzugeben. Klingt bekannt? Beim Klingelbeutel können Sie nicht sehen, was der andere hinein wirft. Wer wie viel aus der Diakoniekasse bekommt, wissen Sie auch nicht. Eigentlich ein gutes System, um den Stolz der Empfänger zu wahren. Barmherzigkeit üben hat also etwas mit der eigenen Verantwortung zu tun. Ich übe mit meiner Spende Barmherzigkeit, weil ich weiß, dass ich eine Mitverantwortung trage für Menschen, denen es nicht so gut geht wie mir selbst.
Die gleiche Idee liegt unserem Sozialstaat und unseren solidarischen Sicherungssystemen zugrunde: wir geben abhängig von unserer eigenen Leistungsfähigkeit. Der eine mehr, der andere weniger – je nachdem wie viel verdienen und was wir uns leisten können. Ebenso klare Mechanismen gibt es auf der Seite der Empfänger: es ist klar geregelt, wer welchen Anspruch hat. Kein Mitleid erforderlich. Steuern zahlen als eine Übung in Barmherzigkeit.
Der ehemalige amerikanische Präsident George W. Bush hatte eine andere Vorstellung: Compassionate Conservatism – der Staat hält sich in sozialen Angelegenheiten zurück und die Gesellschaft organisiert die Almosen. „Compassionate“ sagt es schon: mitfühlend, anteilnehmend, barmherzig, teilnahmsvoll, mitleidig, mitleidsvoll, erbarmungsvoll. Den Armen soll geholfen werden aus Mitleid. Der Sozialstaat zieht sich zurück, reduziert die Steuern und überlässt die Sorge für die Benachteiligten der Zivilgesellschaft. Dabei hat Bush besonders an die Kirchen gedacht. Sie sollten Spenden sammeln, Suppenküchen einrichten und sich sowieso um die Bedürftigen und Gestrauchelten kümmern. Dabei propagierte er den Rückzug des Staates aus tiefer christlicher Überzeugung. Er war überzeugt, das Firmen, Stiftungen und Kirchen viel besser helfen könnten als der Staat. Der Staat sollte seine eigenen Förderprogramme zurückfahren und dafür gesellschaftliche Gruppen anregen, effektive Sozialprogramme zu organisieren. Barmherzigkeit war für ihn keine Aufgabe für die Staatskasse. Gleichzeitig wurden die Steuern – besonders für Reiche – gesenkt, damit sie die entsprechenden Programme selbst direkt unterstützen könnten. Steuersenkung als ein Anreiz, Barmherzigkeit zu üben.
Damit sind wir wieder beim Antrieb fürs Geben angekommen. Geben aus Überzeugung und Verantwortung oder Geben aufgrund von Mitleid? Die Spendenkampagnen zur Weihnachtszeit bauen auf das Mitleid, genauso wie der Bettler in der Fußgängerzone. Jesus spricht hier aber in der jüdischen Tradition des Spendens. Da wird Barmherzigkeit mit Gerechtigkeit gleichgesetzt. Das zieht sich quer durch das Erste Testament. 3. Mose 25,35: Wenn Dein Bruder herunterkommt und sich neben dir nicht halten kann, sollst Du ihn stützen, auch den Fremden und Beisassen, sodass er neben dir leben kann. Jesaja 58,7: Brich dem Hungrigen dein Brot! Denjenigen, die im Elend ohne Obdach sind, führe in dein Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Sprüche 14,31: Wer den Schwachen niederdrückt, schmäht den, der ihn gemacht hat; ihn ehrt, wer sich des Armen erbarmt. Dabei gab es schon im antiken Judentum Steuern, um ein System kommunaler Armenpflege zu finanzieren.
Über das Erste Testament wieder bei den Steuern angekommen. Wir haben einen umfassenden Sozialstaat, der in unserem Auftrag Barmherzigkeit übt. Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Einkommensteuer – alles Mittel, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Reicht das? Also keine weiteren Spenden geben? Getrost verabschieden können wir uns wohl von dem „Entweder oder“-Ansatz der hinter der Bush Idee liegt. Steuern für soziale Ausgaben haben eine ganz alte – sogar vorchristliche – Tradition. Das abschaffen zu wollen, erscheint nicht wirklich christlich.
Aber: für Ausgleich zu sorgen, wo wir Ungerechtigkeit sehen, ist auch eine persönliche Übung in Barmherzigkeit. Dieser Aspekt des mitfühlenden Konservatismus ist sicher eine wichtige Ergänzung zum sozialen Ausgleich durch staatliche Programme. Gerne seine Steuern und Sozialabgaben zu zahlen, ist also ein wichtiges Element. Das zweite ist es, dann aber trotzdem noch einen offenen Blick für Ungerechtigkeit zu haben. Wo herrscht Ungerechtigkeit trotz staatlicher Sozialabgaben? Hier können und sollen wir direkt Barmherzigkeit üben. Im frühchristlichen 2. Klemensbrief heißt es: „Barmherzigkeit ist so gut wie Buße für Sünde; besser ist Fasten als Gebet; Barmherzigkeit ist aber besser als beide.“
Amen.