Votum

Losung: Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen! Jesaja 5,20

EG 452, 1-3 Er weckt mich alle Morgen

Auf wohlgemeinte Ratschläge, was ich hätte tun oder lassen müssen, reagiere schnell sauer. Schließlich kommen sie meist in einer Situation, wenn etwas schon schief gelaufen ist. Mir ist auch ohne den – hoffentlich gut gemeinten – Ratschlag schon ziemlich klar, was ich falsch gemacht habe. Und der – meist ungefragt – Ratgebende beansprucht eine moralische Autorität, die einzig da herrührt, dass er diese Fehler gerade nicht selbst gemacht hat. Und zuletzt weiß er im Nachhinein vielmehr über den Ausgang der Angelegenheit, als ich bei meiner Fehlentscheidung vermuten konnte.

Die Krönung solcher Besserwisserei sind dann vorher nicht kommunizierte Erwartungen, an denen mein Verhalten gemessen wird. Egal wie es gemeint ist, schnell fühlen sich solche Ratschläge wie überflüssiges Nachtreten an.

In solchen Konstellationen finden wir uns natürlich nur dann wieder, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wenn eine mutige Entscheidung Erfolg gezeigt hätte, wäre es zu einer solchen Gesprächssituation gar nicht erst gekommen. Aber wohl auch nur selten zu einem beherzten Schulterklopfen. Mit einer Anerkennungskultur tun wir uns schwer und eine produktive Fehlerkultur ist alles andere als einfach. Deshalb versuchen wir in den unterschiedlichsten Settings, Lessons-Learnt Prozesse zu etablieren, um aus positiven und negativen Erfahrungen Handlungsorientierungen für die Zukunft abzuleiten.

Wichtig ist dabei der Blick nach vorn: es geht nicht um die Fehler der Vergangenheit, sondern darum, solche Fehler nicht noch einmal zu machen. Jesaja hat sich diese vermeintlich moderne Fehlerkultur schon vor 2700 Jahren zu eigen gemacht. "Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen!" Jesaja geht es darum, die Untaten, die er in der Jerusalemer Stadtgesellschaft erlebt, klar zu benennen: Habgier, Trunksucht, Verstrickung in Sünde, Verdrehung moralischer Grundsätze, Überheblichkeit. Er prangert damit die scheinheilige und heuchlerische Oberschicht in Jerusalem und Judäa an, zu der er selbst gehört.

Dafür bedient sich für die Weheworte in seinem 5. Kapitel stilistisch beim Weheruf aus der Totenklage. Ein starkes rhetorisches Mittel: er schreibt über seine wohlsituierten Mitbürger, als ob sie Gottes Strafe schon ereilt hätte. Als seien sie schon tot. Aus dem Munde eines Propheten sicherlich eine sehr bedrohliche Warnung. Aber Prophetie bedeutet nicht immer in die Zukunft gerichtete Wahrsagerei. Vielmehr lassen sich viele Passagen bei Jesaja auch als eine Kommentierung bereits vergangener Ereignisse lesen. Im Nachhinein werden einschneidende Ereignisse interpretiert und diese Interpretation dann als Vorhersage aufgeschrieben, um klare Orientierungshilfen für die Zukunft zu bieten.

Mit seinen prophetischen Aussagen skizziert Jesaja, was hätte sein können, wenn sich die Gläubigen anders verhalten hätten. Die Verpackung als in die Zukunft gerichtete Vorhersagen, macht diese Argumente nicht nur verdaulicher, sondern macht es auch einfacher, sie weiterzuverbreiten. Prophetie als antiker Lessons-Learnt Prozess.

Dabei geht es ihm um eine simple Botschaft: „practice what you preach“ – Glaube muss gelebt werden. Im alt-orientalischen Kontext ein völlig neues Argument: Götter wollen nicht nur angebetet werden; reichliches Opfern reicht nicht. Vielmehr ist auch gottgefälliger Lebenswandel von Nöten. Gebete und kultische Handlungen machen erst dann Sinn, wenn die göttlichen Gesetze und Erwartungen auch den Umgang unter den Menschen bestimmen.

Gerade habe ich die moralische Anklage der Losung eingeordnet und dann kommt auch noch dieser Lehrtext hinzu: "Sie werden Rechenschaft geben müssen dem, der bereit ist, zu richten die Lebenden und die Toten." (1.Petrus 4,5)

Mit dieser Kombination aus Losung und Lehrtext geben uns die Herrnhuter heute Morgen die volle moralische Breitseite. Man ist geneigt, das als ganz weit ausgestreckten Zeigefinger auf die drohende ewige Verdammnis zu lesen. Bei mir regt sich innerlich Widerstand – ganz ähnlich wie bei der anfangs geschilderten Besserwisserei.

Und doch stehen beide Autoren im Hier und Jetzt. Jesaja und Petrus stimmen in ihren Kernaussagen überein: lebt euren Glauben jetzt.

Petrus Herausforderung ist es dabei, Anweisungen dafür in einem neuen, aber recht feindlichen Umfeld geben zu müssen. Seine Gemeinden in Kleinasien leben als Fremdlinge in einer nichtchristlichen Welt und dennoch sollen sie christliche Werte nicht nur innerhalb ihrer Gemeinde, sondern auch im Umgang mit Nichtchristen leben. Für sie gibt es noch kein belastbares Erfahrungswissen. Jegliche Ratschläge können nur nach vorn gerichtet sein.

Seine Aussage „Sie werden Rechenschaft geben müssen dem, der bereit ist, zu richten die Lebenden und die Toten“ bezieht sich dann auch gar nicht auf die christliche Gemeinde, sondern vielmehr auf die Heiden um sie herum. Petrus macht einen Vergleich mit der Mehrheitsbevölkerung, den Nichtchristen, um die Universalität christlicher Werte zu unterstreichen: das Gericht blüht allen; eine christliche Lebensführung setzt sich klar vom heidnischen Umfeld ab, aber sie zeichnet die Gemeindeglieder aus, macht sie zu etwas besonderem.

Jesaja schreibt über bereits geschehenes Fehlverhalten und leitet daraus Handlungsempfehlungen für künftige, ähnlich gelagerte Situationen heraus. Er argumentiert auf Vorrat. Petrus hingegen will in einer aktuellen und akuten Krise konkrete Hilfestellung bieten. Folglich schreibt er auch greifbarer und konkreter, aber das Ziel ist bei beiden gleich: „Practice what you preach“

Nach vorn gewandt sollten wir das gut annehmen können; eine Handlungsempfehlung, die ganz offensichtlich gut ist. Wenn sich bei uns aber dennoch Widerstand regt, ist es wohl, weil wir die wohlgemeinten Ratschläge anderer meistens als rückwärtsgewandt und damit als unproduktive Kritik an unserem Handeln erlebt haben. Narben, die eine unzulängliche Fehlerkultur hinterlassen hat.

„Practice what you preach“ muss nicht mit dem Beigeschmack des erhobenen Zeigefingers kommen. Denn es ist nach vorn gerichtet. Es ist die Einladung, Glauben mit Leben zu füllen; Glauben zu leben. Ein Angebot für künftige Entscheidungen, keine Kritik an vergangenen.

Herr, hilf mir, für solche gute Angebote offener zu werden. Amen

EG 295 Wohl denen, die da wandeln

Vater unser

Segen