Heute ist der 9. November: 24 Jahre Fall der Mauer, 75 Jahre Reichsprogromnacht, 90 Jahre Hitler-Ludendorff-Putsch, 95 Jahre Ausrufung der Weimarer Republik, 165 Jahre Scheitern der Märzrevolution. Ein durch und durch deutsches Datum in all seiner Ambivalenz. Und dazu haben die Herrnhuter einen Oster-Text gestellt. Ich will erst gar nicht versuchen, das mit einander in Verbindung zu bringen.

Votum

Losung: Der HERR richtet auf, die niedergeschlagen sind. Psalm 146,8

Psalm im Wechsel sprechen. EG 757

Dass ich Menschen gegenüberstehe, sie mir vertraut erscheinen, mir aber einfach nicht einfällt, wie sie heißen, passiert mir ständig. Schlechtes Namens- und Gesichtsgedächtnis. Das war schon in der Uni nicht unproblematisch, als ich bei der Notengebung am Ende des Semesters bei dem einen oder anderen Namen immer wieder rätselte, welche Student dazu gehöre. Und heute, da Netzwerken ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit ist, auch alles andere als hilfreich.

Glücklicherweise erkennen wir die Menschen, mit denen wir viel zu tun haben, die wichtig für uns sind, doch immer wieder. Ganz anders die Emmaus-Jünger: einen ganzen Tag wandern und sprechen sie mit dem Auferstandenen, doch sie erkennen ihn nicht, bis er ihnen das Brot bricht. Nachher sinnieren sie über diese Situation: „Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz, als er unterwegs mit uns redete, als er uns die Schriften aufschloss?“

Gerade den hätten sie eigentlich früher erkennen müssen. Fast so, wie wir Leute beim Smalltalk erst im zweiten oder dritten Anlauf in die richtige Schublade bekommen. Peinlich. Wie die Jünger brauchen wir dann erst einmal eine Brücke, um Person, Namen und Geschichte zusammen zu bringen.

Soweit die moderne Analogie. Spannend wir die Geschichte dort, wo die Analogie versagt. Sie erkennen Jesus an seinen Taten, aber nicht an seinem Aussehen oder gar seinen Worten. Erst später wird ihnen klar, dass ihr Herz sie in die richtige Richtung lenken wollte, sie es aber nicht zuließen. Der Auferstandene erscheint ihnen zunächst völlig fremd. Anscheinend ähneln sich der Gekreuzigte und der Auferstandene körperlich nicht. Fremd genug scheint er, so dass sie Jesus die Geschichte von Jesus erzählen.

Sie haben den eigenen Chef nicht erkannt. Oberflächlich gesehen erst einmal ein Hinweis darauf, dass Auferstehung wohl wenig mit der körperlichen Hülle unserer Seele zu tun hat. Damit es zu dieser Begegnung kommen kann, muss die Hülle austauschbar sein. Im Widerspruch dazu steht natürlich Johannes, bei dem der Auferstandene seine Wundmale als Beweis vorführt. Aber bei den Synoptikern, also Matthäus, Markus und Lukas erkennen die Jünger ihn nicht aufgrund körperlicher Ähnlichkeit.

„Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz, als er unterwegs mit uns redete, als er uns die Schriften aufschloss?“ Die Emmaus-Jünger müssen die Begegnung mit dem Auferstandenen noch verarbeiten. Einen Tag sind sie gemeinsam unterwegs. Dabei kamen sie schnell ins Gespräch über die Kreuzigung Jesu. Der von ihnen noch nicht erkannte Weggefährte hielt ihnen eine ausführliche Predigt: „Da sagte er zu ihnen: Wie unverständig seid ihr doch und trägen Herzens! Dass ihr nicht glaubt nach allem, was die Propheten gesagt haben! Musste der Gesalbte nicht solches erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften über ihn steht.“

Diese Auslegung war sicherlich nicht in 5 Minuten getan und dennoch erkannten ihn seine Jünger nicht. Worte reichten nicht – obwohl es die Worte des gleichen Rabbi waren, dem sie seit langem folgten; der damit oft genug bei den Autoritäten angeeckt war – bis hin zu seiner religionspolitisch motivierten Hinrichtung. Erst als er zu Beginn des gemeinsamen Mahls Wein und Brot mit den Worten des letzten gemeinsamen Mahls an Gründonnerstag reichte, erkannten die Jünger ihn. Gerade einmal drei Tagen waren seit dem Mahl mit den 12 Jüngern vergangen – so muss der Lobpreis zu Beginn des Mahls wie ein Codewort gewirkt haben: „Da wurden ihnen die Augen aufgetan, und sie erkannten ihn. Und schon war er nicht mehr zu sehen.“

Keine Wunder also, dass sie sich nachher fragen, warum sie ihn nicht früher erkannt hatten. Die Predigt unterwegs hatte ja anscheinend etwas in ihnen bewegt, aber es reichte nicht. Nun also die Ursachenanalyse. Das Herz brannte in ihnen und doch erkannten sie ihn nicht. Diese Analyse wird im Text nicht zu Ende geführt, aber deutlich wird doch, dass zunächst weder Auge noch Kopf den Auferstandenen erkennen, aber ihr Herz dennoch brennt.

Erkenntnis durch das Herz – das hätte in dieser Geschichte früh funktionieren können, doch die Jünger lassen es nicht zu, weil Kopf und Auge im Wege stehen. Aber Ostern steht gerade für den Wechsel von Argument zu Glaube, von Kopf zu Herz. Bis zu seiner Kreuzigung steht der jüdische Reformator Jesus für eine Neuinterpretation religiöser Praxis. Er streitet sich mit anderen Gelehrten um die Auslegung der Schrift und die Konsequenzen für die alltägliche Lebenspraxis. Das ist eine Auseinandersetzung für den Kopf, ein Ringen um die bessere Religionsphilosophie. Die Auferstehung ändert das radikal. Es geht nicht mehr um die besseren Argumente für das richtige Verhalten am Sabbat, sondern um die Erkenntnis etwas Neuen, dass sich nicht mit Auge und Kopf fassen lässt. Selbst der Zweifler Thomas kommt am Ende ohne Jesu Wundmale aus, wenn er bezeugt: „Mein Herr und mein Gott!“

Johannes legt noch eine Schippe drauf, damit ganz klar wird, worum es geht: „Jesus sagt zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht mehr sehen und glauben!“ Möge es uns gelingen, in dieser allzu verkopften Welt auch mit dem Herzen zu sehen.

Amen.

Lied: EG 197 Herr, öffne mir die Herzenstür

Vater unser

Segen