Guten Morgen!
Wir feiern diese Andacht im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen
„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken.“ Das steht als Losung für heute bei im 3. Buch Mose. Kapitel 19, Vers 13.
Lassen Sie uns singen. Lied 82 „Wenn meine Sünd mich kränken“. Nr. 82, Verse 1, 2 und 7.
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Was soll man da noch sagen? Die Goldene Regel. Der Kern der Botschaft Jesu. Die Zusammenfassung der alttestamentlichen Ethik.
„Also: Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten“ So wird Lehrtext für heute in der Zürcher Bibel übersetzt. Zu finden ist der Text bei Matthäus im 7. Kapitel, also gegen Ende der Bergpredigt, die mit klaren ethischen Aussagen nicht spart.
Die goldene Regel ist das Profil der gesamten Ethik Jesu und damit der höchste Ausdruck einer besseren Gerechtigkeit, in deren Zentrum das Liebesgebot steht. Ihre Stärke liegt darin, dass sie vom eigenen Verlangen nach angemessenen Verhalten ausgeht. Damit nutzt sie die natürliche Selbstachtung, um Empathie und Solidarität zu fördern.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ So formuliert Kant seinen kategorischen Imperativ.
Wenn man alles so kurz und prägnant ausdrücken kann, warum brauchen wir die doch recht umfangreiche Bibel um die Version aus dem Evangelium drum herum? Warum Bibliotheken voller theologischer Literatur? Warum Hunderte von Jahren philosophischer Diskurse, wenn Kant mit seinem kategorischen Imperativ auch wieder genau hier ankommt?
Als Maxime hat die Goldene Regel keine unmittelbare Anwendung. Sie dient sondern als Grundlage moralischer Regeln, die sich an ihr messen lassen müssen.
Die goldene Regel allein reicht also nicht. Sie muss operationalisiert, heruntergebrochen, übersetzt werden in Regeln, die unser Handeln direkt leiten können. Also reichlich Stoff für theologische und philosophische Diskurse.
Nicht nur das. Die Goldene Regel ist nicht nur Grundlage, sondern auch Maßstab für diese Regeln. Die abgeleiteten Regeln wollen also an ihr gemessen werden, ob sie dem Anspruch der allgemeinen Gesetzestauglich gerecht werden können.
Es geht aber noch weiter – und hier wird es besonders interessant. Die Goldene Regel geht von dem eignen Verlangen nach Behandlung durch andere aus. Der Maßstab sind also die eigenen Erwartungen bezüglich der Handlungen anderer. Aber woher kommen diese Erwartungen? Wie sehen sie aus?
„Suppose that somone ...“ so würde mein amerikanischer Philosophenfreund ein Gedankenexperiment einleiten. Also nehmen wir einmal an jemand würde nicht wollen, dass mit ihm freundlich und hilfsbereit umgegangen würde. Sondern vielmehr Neid, Misgunst und Bosheit als angemessenes Verhalten anderer ihm gegenüber empfinden würde. Würde die goldene Regel dann auch nicht bedeuten, dass er genau dieses Verhalten selbst anderen gegenüber an den Tag legen müsse?
Damit hätten wir ein Problem, denn die Regel soll ja aus Eigeninteresse Solidarität stiften. Die Goldene Regel soll Gemeinschaften zusammen halten. Der Mechanismus der Regel allein reicht also nicht. Gemeinschaftsförderlich kann sie nur sein, wenn die Gemeinschaft einen gemeinsamen Bezugsrahmen hat, der Orientierung für erwünschtes Verhalten gibt.
Also noch eine Existenzberechtigung für theologische und philosophische Schriften ...
Die Losung für heute aus dem dritten Buch Mose gibt in klaren Worten eben diese Orientierung: „Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken.“ Drum herum stehen noch viele weitere und spezifischere Regeln. Solche Regeln, die den ethischen Kern der Goldenen Regel in handlungsleitende, praktische Regeln umsetzen.
Wenn das reichen würde, könnte die Bibel immer noch um einiges dünner sein: alttestamentliche Gesetzbücher plus Bergpredigt plus diverse andere ähnliche Stellen. Weg mit den Prophezeiungen, weg mit der Geschichtenerzählerei in den Evangelien. Damit hätten wir die biblische Ethik samt Umsetzungsanweisung in einem handlichen Paket. Klein und fein und doch alles versammelt, was man zur Organisation einer funktionierenden Gemeinschaft benötigt.
Doch halt! Es fehlt die Motivation. Warum sollte ich mich um alle diese Regeln scheren?
Dafür brauchen wir den Kontext dann doch. Alttestamentliche Regeln brauchen die Erfahrungen des strafenden Gottes und die Furcht davor. Liebe und Nächstenliebe als Antrieb im Neuen Testament brauchen die Geschichte und Aufopferung Jesu.
Und damit enden wir bei einer spannenden Frage, die auch Philosophen nicht arbeitslos werden lässt: wie gehen das Prinzip der Solidarität aus Eigeninteresse in der goldenen Regel zusammen mit der Motivation und Orientierung, die uns der Glauben bietet?
Beides scheint untrennbar mit einander verbunden zu sein und doch sind zwei sehr unterschiedliche Mechanismen am Werk.
Glauben wir aus Eigennutz? Oder können wir uns durch unseren Glauben auch eigennützliches Verhalten leisten, dass dann trotzdem solidarisch wirkt? Es gibt also doch noch viel zu sagen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Lassen Sie uns Lied 419 „Hilf, Herr meines Lebens“ singen. Nr. 419.
Lasst uns gemeinsam beten: Vater unser ...
Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen.